Die Lübecker Maschine rollt weiter

Wie jeder meiner Leser weiß, bemühe ich mich in meinen Berichten stets um Objektivität und eine möglichst realitätsgetreue Darstellung der Ereignisse. Zur Abwechslung habe ich mich dazu entschlossen, meine eigene Geschichte zu erzählen...

Es beginnt in der Nacht vom 13. auf den 14. Januar dieses Jahres. Wie so häufig war ich noch spät geschäftlich unterwegs (was wohl daran liegt, dass ich dieses Jahr mein Abitur machen werde), sodass ich um ca. 01:00 zuhause ankam. Wir wollten uns am nächsten Morgen um 08:15 am Schachverein treffen, weshalb ich schon bald versuchte, einzuschlafen. Weil ich mein Gehirn nicht ausschalten konnte, machte ich mir zur Ablenkung noch einen beruhigenden japanischen Horrorfilm an. Normalerweise hätte mich der Schlaf bald eingeholt, aber nicht in dieser schicksalsreichen Nacht. Als der Film vorbei war, fühlte ich mich krank. Es folgte eine Abwechslung von Kurzschlafphasen und dem eiligen Gang ins Badezimmer. Erst um 04:30 gelang es mir, endgültig einzuschlafen.

Als ich um 07:00 zum Morgengebet aufwachte, fühlte ich mich immer noch schlecht. Aber mein Pflicht- und Ehrengefühl trieben mich dazu, ohne Frühstück zum Schachverein zu fahren.

Ich war selbstverständlich (mental) bestens auf Delmenhorst vorbereitet, weshalb ich mir während der Autofahrt etwas Schlaf erlaubte. In der Zwischenzeit waren Max, Fin, Tilo, Tom und Martin schon in höchster Konzentration, entweder bei der Vorbereitung oder Meditation.

Zu meinen Erwartungen an das Spiel: Wir waren sicherlich der Favorit, aber schon im letzten Jahr fiel das Ergebnis trotz 4,5-1,5 sehr knapp aus. Mut machte mir aber die Tatsache, dass wir in Bestbesetzung antraten. Zur Erklärung: Die Bestbesetzung ergibt sich nicht aus der höchsten DWZ oder ELO, sondern aus der besten Chemie der Spieler.

Etwas Sonderbares geschah dann, als wir in Delmenhorst ankamen. Pechschwarze Wolken zogen am Himmel herauf, ein starker Wind wehte aus dem Norden. Menschen wechselten vor uns die Straßenseite, Fensterläden wurden geschlossen und alle schienen vor uns zu flüchten. Der Gestank der Angst lag schwer in der Luft.

Ähnlich war der Zustand beim Spielort: Nur 4 von 6 Spielern hatten sich pünktlich zum Spielort getraut. Mir wurde gesagt, dass mein Gegner um 11:07 kommen würde. Wieso erst um 11:07? Und woher war die genaue Ankunftszeit meines Gegners bekannt? Handelte es sich hierbei etwas um ein Ritual? Während mir diese Fragen durch den Kopf gingen, lief die Uhr meines Gegners, der dann wirklich um 11:07 erschien.

Währenddessen starteten die Partien um mich herum schon. Bei Tom war das Evans Gambit mit Ld6 von Schwarz auf dem Brett. Hier würde ich noch häufiger hinüberblicken. Zu meiner Rechten saß Martin. Schon nach seinem 1. Zug musste ich aufstoßen, konnte aber meine Kontrolle behalten. Zu Martins Partie möchte ich auch kein weiteres Wort verlieren, denn er war so freundlich, sie zu kommentieren.

Wie immer war mein Ziel, die Partie so kurz wie möglich zu halten, besonders, weil es mir immer noch nicht gut ging. Dieses Ziel verwarf ich im 3. Zug nach 1. e4 c5 2.Sf3 d6 3. Lb5+. Ich habe meinem Verstand noch mehr Schlaf gegönnt, während mein Körper einige Züge ausführte.

Eine Stunde später war ich wieder vollständig wach und machte meine erste Runde. Max hatte nach der Eröffnung eine Figur mehr und ich dachte, dass er die Partie bald beenden würde.

Auch bei Tilo sah es sehr gut aus. Er hatte zwar keinen Materialvorteil, sein Gegner hatte ihm aber die Kontrolle über das gesamte Brett überlassen. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis die gegnerische Stellung zusammenbricht.

Fin wollte es spannend machen. Er hatte einen Bauern geopfert, nur um im psychologischen Vorteil zu sein. Denn wer einen Bauern weniger hat, kann auch mit Remis zufrieden sein. Mit einem Mehrbauern lastet der Druck der Mannschaft auf einem, den vollen Punkt zu holen.

Tal sagte einmal, man solle seinen Gegner in einen dunklen Wald führen, aus dem nur ein schmaler Pfad herausführt. Ich möchte gar nicht wissen, was in dem Wald schon alles passiert ist, aber Tom schien die gleiche Taktik mit seinem Gegner zu verfolgen. Nachdem der Rauch über dem Brett verzogen war, hatte Tom eine Figur mehr und stand auf Gewinn.

Ich riskierte noch einen Blick auf Martins Brett, sah, dass im 18. Zug noch keine Figur getauscht worden war und wandte mich schnell ab.

Ich kehrte an mein Brett zurück und sah, dass die Stellung immer noch sehr langweilig war. Meine Figuren grüßten mich mit den Worten: ,,Ave imperator! Morituri te salutant." Um mir die Zeit zu vertreiben, begann ich, das Lied "Likey Likey" von Twice in meinem Kopf zu singen. Ich blickte auf die Uhr und sah, dass mein Gegner schon sehr viel Zeit verbraucht hatte, weshalb ich mich dazu entschloss, auf Gewinn zu spielen.

Tom konnte seine Partie kurze Zeit später beenden und brachte uns mit 1-0 in Führung.

Auch Martin war einige Minuten später fertig. Irgendwie hatte er seinen Gegner ermüdet und schließlich im Moment der Unachtsamkeit alle Bauern nach vorne geschoben.

Ich konnte meine Partie als nächstes gewinnen. Mit meinem feinen Positionsgespür war es mir gelungen, meinen Gegner auszumanövrieren. Ich wusste, was er denkt und was er in 10 Minuten denken würde.

Beim Stand von 3-0 verließ ich den Spielsaal. Während Martin und Tom ihre Zeit mit ,,Müllschach", ,,Recyclingschach" und ähnlichem verbrachten, verglich ich in meinem Kopf die Theorie des Gesellschaftsvertrages von Rousseau mit Ciceros staatstheoretischen Ansichten aus seinem Werk ,,De re publica".

Tilo erhöhte auf 4-0.

Moment! Was ist mit Max? Hatte er nicht eine Mehrfigur in der Eröffnung? Dann muss er doch schon längst fertig sein. Hat der Autor ihn etwa vergessen? Natürlich nicht! Max quälte sich und seinen Gegner bis ins Endspiel, konnte dann aber den Punkt relativ souverän für sich entscheiden.

Fin hatte aus psychologischen Gründen zwei weitere Bauern gegeben. Denn wie würde sein Gegner dastehen, wenn er trotz drei Mehrbauern nicht gewinnt und das 0-6 ermöglicht? Fins Ausstrahlung am Brett schüchterte seinen Gegner weiter ein. Es gelang Fin, alle Bauern zurückzuerobern. In der Endstellung hätte er sicherlich weiter auf Gewinn spielen können (jeder hatte noch eine Dame, einen Springer und zwei Bauern), aber Fin willigte ins Remis ein. Zwei Gründe dürften seinen Geist dazu bewegt haben:

Erstens, stellt sich sein Gegner nun auf ewig die Frage, wieso er im letzten Moment noch Gnade erfahren hat (obwohl dies nicht der Fall war), was ihm noch einige schlaflose Nächte einbringen wird.

Der zweite Grund war weitaus selbstloser: Fin wollte sein Team nicht noch länger warten lassen.

Nach der Partie sagte Fin zweierlei: " La mort n'est rien, mais vivre vaincu et sans gloire, c'est mourir tous les jours. " und "Quand le vin est tiré, il faut le boire."

Hier Martins kommentierte Partie:

Mit 5,5-0,5 können wir durchaus zufrieden sein. Als nächstes spielen wir gegen Uelzen, die nur einen Mannschaftspunkt hinter uns liegen. Mit einem Sieg können wir unseren Vorsprung auf zwei Mannschaftspunkte vor Hagen, Hamburg und Kiel ausbauen.

An dieser Stelle noch vielen Dank für unseren Mannschaftsführer/ Chauffeur, der uns noch nie im Stich gelassen hat.{jcomments on}