Drei Minuten vor Schluss strich auch Torsten Gerke die Segel. „Ich bin frustriert, ich fahr nach Hause.“ Und entschwand zügig von der Spielstätte. Also keine leeren Sektflaschen auf der Autobahn, keine Schlangenlinien auf dem Weg nach Lübeck, kein Gegröle, kein Gejauchze und keine Lieder. Nichts. Ich blieb zurück und beglich an der Theke die Rechnung für drei Wasser. Direkt vor mir hatte schon Volker Gülke einige Biere gezahlt, die er aber offenbar nicht selbst getrunken hatte. „Drei? 6,60 Euro.“ Die Summe für für meine drei Getränke kam wie aus der Pistole geschossen, auch Volker ließ keine Rätsel aufkommen. Das wunderte mich später etwas. Das alles sind dann sicher Getränke, die häufig im Riemannhaus bestellt werden. Torsten Gerke orderte zum Spielbeginn einen Kaffee, Jürgen Erich wollte eine Cola haben, beide wollten sofort zahlen – der Wirt wirkte leicht ratlos und schaute auf einer Preisliste nach. Oder sollte es in Eutin eine Gäste- und eine Stammgästekarte geben, unterschiedlich ausgezeichnet? Sicher nicht.

Ich sammelte Volker ein und wir fuhren los. Wolfgang Clemens war schon lange weg und knautschte wohl aufgeregt die heimischen Sofakissen. Und auch Ede war mit Andreas Richter, Jürgen Erich, Michael Weiss und Jens Maly vorzeitig abgefahren. Ob sie nach ihrer Rückkehr in einer Lübecker Kneipe gelandet sind, in so einer Lokalität, über die man besser nicht spricht, von der man am nächsten Morgen nichts mehr weiß, aber in der man wenigstens auch nicht viel Geld los geworden ist, das vermag ich nicht zu sagen.

Volker wollte an irgendeiner Eutiner Straßenecke aussteigen. „Du musst nur noch geradeaus fahren“, sagte er zum Abschied. Als die Wagentür zuschlug, kurbelte ich das Fenster runter und sog die Luft in die Lungen. Lauschte. Aber keine Haustür klappte. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Nicht rechts, nicht links, vorne nicht und hinten auch nicht. Ich fuhr los, nachdem ich das Fenster geschlossen hatte. Immer geradeaus, wie geheißen. Erst im Niendorfer Gehege kreuzte ein einsames Reh meinen Weg und verschwand im nächtlichen Unterholz.

Zeit also, über alles nachzudenken. Andres Richter frotzelte vor dem Spiel noch: „Wir bieten ein 3,5 an und sehen dann gemeinsam das Spiel Liverpool gegen Dortmund.“ Guter Eröffnungsplan, aber eine Fehlkalkulation zum Abschluss. Wolfgang Clemens erhielt keinen Gegenspieler zugeordnet. Echt schade, dass da nur ein Treffer bei heraussprang. So viel leichter wäre alles geworden. Es wurde dann auch schnell nachgelegt. Jens Maly verpasste frühzeitig einen Figurengewinn – so schien es mir von meinen Tribünenplatz aus. Schwarzer Bauer nach c4 hätte den Läufer auf d3 angegriffen und die Diagonale für Lb4 geräumt – der gefesselte weiße Springer auf c3 wäre verloren gegangen. Bauer c5 schlägt Bauer d4 legte dann auch die Diagonale frei, erlaubte aber Springer schlägt d4 und Sd4 nach e2 – Deckung für c3. Aber auch so stand Jens gut genug. Michael Weiss eroberte Linien und heimste einen und noch einen Bauern ein. Jürgen Erich drückte auf halboffenen Linien, kombinierte und heimste einen und noch einen und später noch einen Bauern ein. Dortmund führte schon mit 2:0 und wir lagen weit vorne. Bei Andreas und Torsten ging es gemächlicher auf den Brettern zu – Spitzenpartien halt. Dortmund ballert, Lübeck überlegt die klugen Querpässe. 3:1 im Fernsehen, 4:1 auf dem Papier. Wolfgang ist schon zu Hause, Michael und Jürgen nehmen die gegnerische Aufgabe entgegen, Jens und Andreas vereinbaren Remis. Meister sind wir seit dem vergangenen Spieltag, der Schlusskampf in Eutin hat keine Bedeutung mehr.

Nur Torsten Gerke und Torsten Begemann sitzen noch einsam unter dem niedrigen Dachstuhl, keiner will aufstehen und sich den Kopf stoßen.
Es ist aber auch eine vertrackte Stellung. Wer ein Remis anbieten will, muss sich dazu quälen, so ein Anliegen vorzubringen. Wer es annehmen will, quält sich nicht viel weniger. Also wird gespielt.

Und während Torsten das erlösende 5:1 erzielt, trifft Dejan Lovren zum 4:3. Torsten gewinnt gegen Englisch, Dortmund unterliegt in England.

 

Der Reporter im zugleich laufenden Radio war schneller als der Fernsehmann. Leider aber auch ungenauer. Dortmunds letzten Freistoß bejubelte er mit „Tor“. Angesichts der Fernsehbilder gingen die geballten Fäuste rasch wieder nach unten.

Das Niendorfer Gehege befindet sich übrigens in Hamburg. Ich kurbelte das Fenster wieder runter, sog die Luft ein. Tief in die Lungen. Lauschte. Kein Zweiglein knackte. Ich war ganz allein. „Ein einsames Reh springt furchtlos im finsteren Wald herum“, dachte ich still und blickte dem Tier hinterher. Ich sah aber nichts. Vielleicht wird das nächste Saison ja ganz anders.

LSV 1   LSV 2   LSV 3

LSV 4  LSV 8  LSV 9