Ein Erlebnisbericht zwischen Türmen, Mattbildern und mühsam erkämpften Badegelegenheiten.
Die Europameisterschaft ist vorbei, die Würfel, nein, die Figuren, sind gefallen. Die Endtabelle steht, die Sieger strahlen, und wer will, kann sich stundenlang durch Analysen, Varianten und Engine-Bewertungen klicken. Schachlich ist also bereits alles gesagt, und zwar von Menschen, die sich auskennen.
Werfen wir einen Blick auf den ganz normalen Wahnsinn hinter den Kulissen einer Jugend-EM. Mit Zeitplänen, die sich gegenseitig bekämpfen, Pools hinter Zäunen, Internet zäh wie Honig und einer Mannschaft, die sich trotz allem tapfer durchs Turnier kämpft.
Team Deutschland U18 spielt mit
Brett 1: Johannes von Mettenheim,
Brett 2: CM Levi Malinowsky,
Brett 3: FM Philipp Leon Klaska,
Brett 4: Daniel Nuñez Grégoire
Ein starkes Quartett, das Deutschland bei der European Youth Team Chess Championship 2025 vertritt, konzentriert, ehrgeizig, teamorientiert. Auch wenn man sich überwiegend nur von Turnieren kennt, auf denen man eher gegeneinander spielt, funktioniert die Mannschaft auf Anhieb, jeder gibt alles.
Anreisetag: 4. Juli (Freitag): Willkommen in der Schach-Bubble
Der Tag beginnt hektisch: Hamburg–Frankfurt–Zagreb. Die Umsteigezeit in Frankfurt lässt sich mit olympischem Sprinttraining vergleichen, auf Laufbändern, die man eher in der Kategorie „suboptimal beweglich“ einordnen kann. In Zagreb dann Shuttlefahrt nach Terme Čatež. Man ahnt es schon, diese Busstrecke wird vermutlich das einzige sein, was wir vom schönen Slowenien zu Gesicht bekommen, außerhalb der Schachbretter.
Check-in, Delegationstreffen, Abendessen. Und dann direkt der erste Schock, Pools. Ja, es gibt sie. Viele sogar. Aber sie scheinen mehr Mythos als Realität zu sein. Der große Indoor-Pool im Hotel kostet extra, der Kleine im Nebenhotel nicht, aber wer schafft es zeitlich schon hinüber? Die Badelandschaft draußen hat um diese Uhrzeit bereits geschlossen.
Die Öffnungszeiten der Pools kollidieren grundsätzlich mit den Essens- und Schachzeiten.
Willkommen im größten Wasserpark Europas, aus dem wir nur das Chlor riechen, aber wohl nicht hineinkommen.
Tag 1: 5. Juli (Samstag): Österreich und andere Enttäuschungen
Erste Runde gegen Österreich. Die Setzliste sagt, klarer Favorit, Österreich, wir sind die Nummer 10 der Startliste. Levi spielt die weißen Steine. In Erwartung einer schwierigen Partie, passiert etwas Unerwartetes: Levi steht laut Liveübertragung mit Engine klar auf Gewinn! Kurz Hoffnung, kurz Euphorie, ein falscher Zug… und aus. Für die Mannschaft endet die Partie Remis.
Abends, ein Spaziergang, entlang der Zäune, hinter denen Sloweniens schönste Wasserrutschen in der Dämmerung glitzern. Ein Ort, an dem andere Urlaub machen. Wir spielen Schach. Schach ist schön. Manchmal hart. Manchmal chlorhaltig, aus sicherer Entfernung.
Tag 2: 6. Juli (Sonntag): Slowenien C und Schwimmen mit Selfie-Bademeister
Morgens dann doch ein kurzer Ausflug ins Schwimmbad, ein logistisches Meisterwerk. Um 8:00 Uhr ist niemand dort, außer dem Bademeister, den wir oben auf dem Rutschenturm in einem Badeboot beim Selfiemachen erwischen. Er hat mit uns Frühschwimmern nicht gerechnet.
Am Nachmittag geht es an die Bretter gegen das nominell schwächste Team des Turniers. Doch wie so oft trügt der Eindruck, Brett 1 verliert leider, die anderen Bretter geraten unter Druck. Trotzdem zeigt das Team Nervenstärke und gewinnt. Levi punktet mit Schwarz. Ein Pflichtsieg und doch hart erarbeitet. Mannschaftssieg gegen Slowenien C mit dem Fazit
„Elo-Zahlen gewinnen keine Partie“.
Apropos Slowenien. Die slowenische Gastfreundschaft ist unglaublich. Der Zimmerservice funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk, Handtücher und Trinkgläser erscheinen auf magische Weise genau dann, wenn man vom Frühstück zurück ist. Und selbst kleinere Sonderwünsche werden mit einem Lächeln erledigt, als sei man nicht bei einer Jugend-EM, sondern in einem Wellnesshotel mit Brettspielen.
Das slowenische Motto „I feel Slovenia“, bei dem das Wort love ganz bewusst in Slovenia leuchtet, ist hier kein bloßer Slogan. Es ist ein Gefühl. Und wir spüren es.
Tag 3: 7. Juli (Montag): Rumänien, Tee und YouTube
Heute spielt Levi Weiß gegen Rumänien. Die Partie ist so stark, dass sie bei einer guten Tasse Tee kommentiert und auf YouTube gestellt wird (der Link ist bereits auf der LSV-Seite, anschauen lohnt sich). Sieg also für Levi und die Mannschaft.
Tee, und schon sind wir beim Kulinarischen: Trotz der hohen Anzahl an Teilnehmern, gefühlt müsste ja halb Europa am Buffet stehen, muss man auf nichts warten. Das Essen ist reichhaltig, vielseitig und richtig lecker. Es scheint, als sei die Küchenlogistik einer Schachpartie ebenbürtig; durchdacht, effizient und ohne unnötige Züge.
Ganz anders das Internet. Wer eine Partieauslosung abrufen oder eine vorbereitende Datei downloaden möchte, braucht weniger Schachverständnis als meditative Geduld. Denn aus unerfindlichen Gründen teilen sich offenbar 500 und mehr Leute eine Leitung. Diese hat die Konsistenz von Honig, für dessen Produktion Slowenien zwar berühmt ist, aber hier ist das wenig hilfreich.
Ironischer heutiger Höhepunkt die Freizeitgestaltung Mitreisender in form einer Wanderung zum ehrwürdigen Wasserturm von Brežice. Ein Bauwerk, das in aller Ruhe über die Landschaft wacht, zeitlos und fast ein wenig poetisch. Umso absurder die Entdeckung, dass im Inneren ein Telekom-Shop vorhanden ist. Ob dies ein strategischer Versuch ist, das fünf Kilometer entfernte Turniergelände mit „Netz“ zu versorgen? Schwer vorstellbar. Denn während der Turm beeindruckt, bleibt das WLAN ein leises Gerücht, kaum spürbar. Vielleicht sendet der Turm lieber Atmosphäre als Daten.
Tag 4: 8. Juli (Dienstag): Ungarn, Frust und Fernkirche
Ungarn ist heute der Gegner, ein starkes Team. Es gibt nicht viel zu sagen. Levi spielt Weiß, verliert. Auch die Mannschaft verliert, zum ersten Mal, aber nicht zu Null, ein Ehrenremis am ersten Brett.
Nach der schmerzhaften Niederlage gegen Ungarn beschlossen wir, für einen Perspektivenwechsel eine Abendwanderung zu unternehmen, zur charmanten „kleine Kirche“ oberhalb von Čatež auf einem Berg. Als wir den steilen Weg gemeistert hatten und vor einem imposanten Gotteshaus standen, dachten wir: Das war’s, Ziel erreicht. Falsch gedacht. Die wirklich kleine Kirche stand noch deutlich weiter oben, winzig, weit weg und bei Tageslicht heute nicht mehr erreichbar. Ein Reinfall.
Nicht unähnlich der Partie zuvor: Man glaubt, man sei am Ziel und plötzlich merkt man, man hat sich verrechnet. Dafür hat man nun monatelang trainiert, Pläne geschmiedet, Varianten gebüffelt, hier vor Ort drei Stunden vorbereitet, nur für diese eine Partie, um dann trotz allem nach 4 Stunden zu verlieren. Willkommen im Turnieralltag.
Wer das übrigens mal selbst erleben möchte, dem kann ich empfehlen sich bei einem offenen Turnier anzumelden, 3 Stunden zu spielen, alles zu geben, zu verlieren um sich danach von einem Hobbykibitz anzuhören, „man hätte doch locker mit dem Springer nehmen können“. Ich habe mir dieses Erlebnis bereits gegönnt und dann bekommt man sie ganz leicht, die andere Perspektive, wie hier oben auf dem Berg.
Die Aussicht war herrlich, der Kopf wieder frei.
Tag 5: 9. Juli (Mittwoch): Litauen und es läuft
Heute passt endlich alles zusammen: Gegen Litauen gelingt der Mannschaft erstmals ein voller Teamerfolg, alle vier Bretter punkten. Levi gewinnt stark mit Schwarz gegen einen „2400er“, Johannes und Philipp liefern souverän ab und holen volle Punkte. Besonders wertvoll ist das Remis von Daniel, der in den letzten beiden Runden alles gegeben und nichts bekommen hatte.
Am Abend gönnen wir uns einen schnellen Cocktail unter den blinkenden Lichtern der kleinen Kirmes vor dem Hotel, jenem Ort, der uns die letzten Tage zuverlässig mit schlechter Musik und Lautstärke von Vorbereitung und Schlaf abgehalten hat. Die im Hotel ausgehängte Nachtruhe, offenbar mehr ein gut gemeinter Hinweis als eine ernsthafte Regel.
Riesenrad und Autoscooter blieben von Levi unbeachtet, „in der Schlange stehen“ vorm WLAN ist Spaß genug, denn gleich kommt die Auslosung.
Tag 6: 10. Juli (Donnerstag): Polen, Fotoshooting und der Reiseführer
Gegen das stark aufgestellte Team aus Polen muss Levi mit Schwarz ans Brett und zieht in einer umkämpften Partie den Kürzeren. Die Mannschaft folgt leider diesem Verlauf, wenn auch nicht gänzlich punktlos: Ein Ehrenremis an Brett 4 bleibt als kleines Trostpflaster.
Zum heutigen Tag kann man also nur sagen: ein schönes Mannschaftsfoto der deutschen Delegation wurde geschossen.
Abends blättern wir im Reiseführer, den ich am Flughafen gekauft habe. Eine mittlerweile kleine Tradition: Vorm Schlafen gemeinsam durchsehen, was wir alles NICHT gesehen haben. Lachen inklusive.
Tag 7: 11. Juli (Freitag): Kroatien B, versöhnlicher Abschluss ?
Letzte Runde, letzte Chance. Und das Team liefert: alle vier Spieler punkten! Levi gewinnt mit Weiß. Eine starke mannschaftliche Vorstellung zum Abschluss, bei der jeder zeigt, dass der Kampfgeist bis zur letzten Runde da ist. Mit dem 6. Platz von 19 übertrifft das Team den eigenen Setzlistenplatz.
Abschließend:
Die Mannschaft, Johannes, Levi, Philipp und Daniel, hat gekämpft und Punkte geholt. Alle gemeinsam und jeder für sich. Und hinter jedem Zug stand viel Vorbereitung.
Ein großer Dank geht daher an unsere Trainer und Betreuer vor Ort, WGM Tatjana Melamed, IM Robert Baskin und GM Adrian Mikhalchishin für ihre Betreuung und Unterstützung aller deutschen Teams auf der EM, egal wie die Partie endete, sowie an Bundesnachwuchstrainer IM Bernd Vökler für die Zusammenstellung des Teams und den Vorbereitungslehrgang zur EM. Und natürlich an Levi's Trainerteam zu Hause, allen voran CM Wolfgang Krüger, der sich nie zu schade ist Levi's und seine eigenen Turniere simultan vorzubereiten und zu verfolgen und dann noch selbst zu spielen.
So eine EM (stellvertretend genannt für alle Turniere die Levi spielt), ist nicht nur geistig fordernd, sondern auch finanziell kein Leichtgewicht.
Levi und wir bedanken uns beim Lübecker SV und der Schachjugend Schleswig Holstein sowie dem DSB für die großzügige Unterstützung. Ebenso bei Heiko Spaan, Referent für Ausbildung im SHSV und DSB, der nie müde wird, Levi zu supporten.
Dann bedanken wir uns bei allen, die Levi stets Grüße und gedrückte Daumen zukommen lassen auf all seinen kleinen und großen Turnierreisen, sowie der Max-Planck-Schule Kiel, die ebenfalls unterstützt wo sie kann.
Fazit:
Am Ende bleibt das gute Gefühl, die Eindrücke eines großartigen Turniers gesammelt haben zu dürfen, mit intensiven Partien, spannenden Momenten und einem Tagesrhythmus, der jeden Freizeitgedanken zuverlässig mattsetzt. Und vielleicht ist genau das auch das Schöne am Schach:
Man braucht keine Wasserrutsche, um sich fallen zu lassen, ein falscher Zug genügt.
Yvonne Malinowsky